Ich bin ja, wie wahrscheinlich mindestens 90 Prozent meiner Zeitgenossen und -genossinnen, recht prokrastinationanfällig. Nun muss ich ehrlich zugeben, dass ich dieses schöne Wort noch nicht so sehr lange kenne. Irgendwann las ich es mal irgendwo, stutzte und verband das Wort sofort mit Prokrustes, dem Riesen aus der griechischen Mythologie. Das war dieser Fiesling, der durchreisende Wanderer einlud, bei ihm zu übernachten.
Nette Geste, könnte man meinen, aber Prokrustes litt leider unter der Wahnvorstellung, die Menschen müssten exakt in sein Bett passen. Und so zog er sie entweder auf der Streckbank in die richtige Länge oder er hackte zu groß Geratenen einfach die Füße ab. Wer heute von einem Prokrustesbett spricht, beschreibt damit eine Zwangslage oder auch eine sehr peinliche Situation, aus der man sich nicht befreien kann. Prokrustes heißt im Griechischen „der Strecker“.
Ich las also von „Prokrastination“ und dachte spontan, das sei die Beschreibung dafür, wie man etwas, was eigentlich unangenehm ist, für sich passend und wieder angenehm macht (denn für Prokrustes war es ja schließlich auch eine persönliche Bedürfnisbefriedigung, sich seine Gäste bettgerecht zuzurichten).
Dann jedoch recherchierte ich und musste feststellen, dass Prokrastination ein sehr neumodisches halbwissenschaftliches Wort aus der 80er-Jahren ist, welches das menschliche Aufschiebeverhalten bezeichnet.„Pro“ heißt im Lateinischen „für“ und „cras“ heißt „morgen“. Und wenn ich beispielweise eigentlich meine Steuererklärung machen sollte, jetzt und hier und sofort, stattdessen aber lieber meinen Feedreader lese, die Spülmaschine ausräume oder das wahnsinnige Bedürfnis verspüre, einen neuen Blogbeitrag zu schreiben, dann prokrastiniere ich.
Na ja, und wenn ich so drüber nachdenke, lag ich ja doch mit meiner Spontandefinition gar nicht so daneben. Wer prokrastiniert, weicht unangenehmen Dingen aus und sucht sich Angenehmeres. Das ist menschlich. Deshalb tun es (fast) alle. Gefährlich ist es nur, wenn es chronisch, manisch, zwanghaft wird. Und eigentlich ist Prokrastination dann auch kein Augenzwinkerspaß mehr, sondern ein ernsthaftes Handicap. Gefährliche Schiebschaften hat Jochen Mai in seinem Karrierebibel-Blog das mal genannt und lesenswerte Thesen dazu verfasst.
Innerhalb meiner Spezies, den Textarbeitern, gibt es übrigens jede Menge Erregungsaufschieber (die anderen sind die Vermeidungsaufschieber), behaupte ich einfach mal so aus eigener Erfahrung. Also Schreiberlinge, die gern erst mal stundenlang um ihren Schreibtisch herumschleichen und denen tausend andere wichtigere Dinge einfallen, die sie noch tun müssen, bevor sie sich an den ersten Satz eines zu schreibenden Textes wagen. (Dazu ein interessanter Beitrag von Kerstin Hoffmann Die Angst vor dem weißen Blatt, auch die Kommentare dazu lesenswert.)
Tja, man kann sowas natürlich als Arbeitsflucht, als Zeitvergeudung, Disziplinlosigkeit, als sinnlose Tüdelei bezeichnen. Andererseits: Ich schaffe es locker, statt der eigentlich anstehenden Aufgabe zehn andere zu bewältigen. Ist doch auch was, oder? Kathrin Passig und Sascha Lobo haben ein nettes Buch darüber geschrieben: Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin.
Darin behaupten sie, dass der Aufwand, den man in die Arbeit investiert, umgekehrt proportional zur verbleibenden Zeit sei. Und man erst im letzten Viertel so richtig produktiv wird. Und wirklich konzentriert bei der Sache ist. Und dann dabei so richtig glücklich ist. Na also!
(Fotos von Knipseline und Michael Bührke, pixelio.de)